NEUES ZUR MASSENENTLASSUNGSANZEIGE?

Die aktuelle Wirtschaftslage ist angespannt. Globale Krisen und Ereignisse treffen auch Unternehmen in Deutschland. Sie bauen derzeit Arbeitsplätze in erheblichem Umfang ab. Große Unternehmen, wie Volkswagen, Bosch, Thyssenkrupp oder ZF haben den geplanten Abbau von jeweils mehreren Tausend Arbeitsplätzen angekündigt. Dabei sind einige rechtliche Rahmenbedingungen zu beachten. Unter anderem ist ein speziell geregeltes Verfahren für Massenentlassungen einzuhalten. Und das geht oft schief!

 

Rechtliche Ausgangslage


Rechtliche Grundlage des Verfahrens bei Massenentlassungen ist die Massenentlassungsrichtlinie der Europäischen Union, die der deutsche Gesetzgeber in nationales Recht umgesetzt hat. Das Verfahren bei Massenentlassungen greift ein, sobald innerhalb von 30 Kalendertagen in einem Betrieb abhängig von dessen Größe zwischen fünf und 30 Arbeitnehmer entlassen werden sollen. Erforderlich ist zunächst eine Information des Betriebsrats, u.a. über Gründe, Anzahl und Zeitraum der Entlassungen (sog. Konsultationsverfahren). Sodann hat der Arbeitgeber diese Informationen gemeinsam mit einer eventuellen Stellungnahme des Betriebsrats an die Agentur für Arbeit zu übermitteln (sog. Massenentlassungsanzeige). Die danach ausgesprochenen Kündigungen werden nicht vor Ablauf eines Monats nach der Massenentlassungsanzeige wirksam (sog. Entlassungssperre). Das Verfahren stellt Unternehmen aufgrund hoher formaler Anforderungen häufig vor Herausforderungen. 

Bisherige Rechtsprechung

Umso schwerer wiegt daher die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts („BAG“). Demnach führt nicht nur die unterlassene, sondern auch die fehlerhafte Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen! Diese Rechtsfolge ist nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt, sondern beruht auf einer Auslegung der gesetzlichen Vorschriften durch die Gerichte. Das BAG hinterfragte Anfang 2024 in zwei Verfahren, ob die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen wirklich eine angemessene Rechtsfolge ist. Es warf im Wesentlichen die Fragen auf, ob eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige tatsächlich die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge haben muss oder ob jedenfalls die Kündigungen nachträglich wirksam werden können, wenn eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige im Nachhinein korrigiert wird. Diese Fragen konnte das BAG nicht allein entscheiden: Der Europäische Gerichtshof („EuGH“) ist letztverantwortlich für die Auslegung von europäischem Recht, also auch der Massenentlassungsrichtlinie. Deren Auslegung beeinflusst wiederum die Auslegung der deutschen Umsetzungsgesetze zum Verfahren bei Massenentlassungen. Daher setzte das BAG die zwei Verfahren aus und rief in sog. Vorabentscheidungsverfahren den EuGH an, in denen Letzterer abstrakte Rechtsfragen zur Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie beantwortet.

Die entscheidungen des EuGH


Der EuGH hält das Nachholen einer fehlenden bzw. die Korrektur einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige nicht für möglich. Das zweistufige Verfahren diene der Rechtssicherheit und schütze die Arbeitnehmer. Es müsse vor dem Ausspruch der Kündigungen korrekt durchgeführt werden. Das gelte sogar dann, wenn die Behörde keine Fehler in der Massenentlassungsanzeige beanstande. Zudem müsse das nationale Recht nach der Massenentlassungsrichtlinie die Einhaltung des Verfahrens bei Massenentlassungen sicherstellen. Allein die Entlassungssperre oder deren Verlängerung bei fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen genüge dafür nicht. Es seien zusätzliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Einhaltung des Verfahrens bei Massenentlassungen erforderlich.

Wie geht es weiter?

Der EuGH beantwortet in Vorabentscheidungsverfahren nur abstrakte Auslegungsfragen zum Europäischen Recht und entscheidet nicht in den konkreten Verfahren, die das BAG zu den Vorlagen veranlasst haben. Das bleibt dem BAG selbst vorbehalten. Es hat dabei aber die Rechtsansicht des EuGH zu berücksichtigen. Die Absicht des BAG, die Rechtsfolge der Unwirksamkeit der nach einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige ausgesprochenen Kündigungen aufzugeben, dürfte nach den Entscheidungen des EuGH kaum noch realisierbar sein. Zwar hat der EuGH die Unwirksamkeit der Kündigungen nicht als zwingende Rechtsfolge festgestellt. Er verlangt jedoch eine Sicherstellung der Einhaltung des Verfahrens bei Massenentlassungen. Inwiefern dies auf eine andere Art und Weise als durch eine Unwirksamkeit der Kündigungen gewährleistet werden kann, ist fraglich. Die vom BAG angedeuteten Lösungen hält der EuGH jedenfalls nicht für ausreichend. Die erhoffte Erleichterung für Unternehmen beim Personalabbau bleibt daher aus. Das Verfahren bei Massenentlassungen sollte weiterhin mit größtmöglicher Sorgfalt durchgeführt werden.

Über die Autoren

Prof. Dr. Christian Arnold

Partner & Rechtsanwalt, Gleiss Lutz

Prof. Dr. Christian Arnold, LL.M. (Yale) berät zum kollektiven und individuellen Arbeitsrecht. Er ist auf die Beratung beim Abschluss und der Beendigung von Dienstverträgen mit Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern sowie auf die Gestaltung von Vergütungssystemen und Vergütungsberichten und die entsprechende Begleitung von Hauptversammlungen spezialisiert. Ein weiterer Fokus liegt auf der Beratung bei (grenzüberschreitenden) Umstrukturierungen, insbesondere mit Bezug zu Fragen der unternehmerischen Mitbestimmung.

Dr. Michael Roll

Rechtsanwalt, Gleiss Lutz

Dr. Michael Roll ist Rechtsanwalt und berät zum individuellen und kollektiven Arbeitsrecht. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt auf der Gestaltung von Dienstverträgen mit Vorstandsmitgliedern, dem Betriebsverfassungsrecht und der unternehmerischen Mitbestimmung.